Privatpraxis für evidenzbasierte Physiotherapie in St. Wendel

Schlagwort: Therapie

Der Einfluss des Geschlechts auf chronische Rückenschmerzen

„Medizin ist männlich und 80 kg schwer.“

Prof. Dr. med Vera Regitz- Zagrosek (Internistin und Kardiologin)

Mit dieser provokanten Aussage von Prof. Dr. med Vera Regitz- Zagrosek möchte ich in diesen Blogbeitrag einsteigen. Sie ist Internistin und Kardiologin aber vor allem Pionierin in der Gendermedizin in Deutschland.

Sie wurde belächelt, als sie Kollegen mitteilte, forschen zu wollen im Gebiet der kardiologischen Erkrankungen und der Unterschiede zwischen Männern und Frauen bezüglich Herzerkrankungen.

Heute wissen wir: Es gibt Unterschiede. Nicht nur in der Symptomatik, sondern auch in der Art und Weise, wie Frauen und Männer bestmöglich therapiert werden sollten.

Genderspezifische Unterschiede bei chronischen Rückenschmerzen

Für eine wissenschaftliche Arbeit habe ich Forschungen angestellt im Gebiet der genderspezifischen Unterschiede bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen.

Ziel meiner Forschung war, herauszufinden, welche genderspezifischen Unterschiede es in Bezug auf chronische Rückenschmerzen gibt und ob ein genderspezifischer Therapieansatz maßgeblich zum Therapieerfolg beitragen kann. Es ist belegt, dass chronische Rückenschmerzen sowohl anatomische Veränderungen, als auch Veränderungen des Zentralen Nervensystems verursachen können. Es ist aber auch bestätigt, dass diese Veränderungen durch geeignete Therapieansätze reversibel sind. Daher ist es mir ein Anliegen, anhand meiner Forschungsarbeit einen Beitrag zur Optimierung physiotherapeutischer Behandlungen bei chronischen Rückenschmerzen zu leisten.

Für meine Forschungsarbeit habe ich aktuelle Studien herangezogen, die sich auf die Schlagworte „Gender“, „chronische Rückenschmerzen“ und „Physiotherapie“ beziehen. Ich habe in diese Forschung lediglich Studien einbezogen, in denen die Teilnehmer der Untersuchungsgruppen mindestens 18 Jahre alt waren und entweder männlich oder weiblichen Geschlechts.

Studien an jüngeren Probanden oder Kindern habe ich nicht mit einbezogen, da diese Gruppe einer gesonderten Betrachtungsweise und Therapieansätze bedarf. Ebenso wurden Studien ausgeschlossen, die sich auf die Thematik in Bezug auf Transgender- und Genderdiversityaspekte beziehen, da hier weitere Faktoren und biopsychosoziale Aspekte in einem multidisziplinären Ansatz betrachtet werden müssen. Die Studienlage hierzu ist noch sehr gering und es bedarf weiterer Forschung in diesem Bereich der Schmerzforschung und -therapie (Boerner, Harrison, Battison, Murphy, & Wilson, 2023).

Hohe Prävalenz und gesamtwirtschaftliche Kosten

Chronische Rückenschmerzen betreffen Millionen von Menschen weltweit. Sie beeinflussen das alltägliche Leben und führen zudem mitunter zu hohen gesamtwirtschaftlichen Kosten. Chronische Rückenschmerzen sind immer ein Ergebnis aus verschiedenen biologischen, psychologischen und sozialen Einflussfaktoren, zu denen auch das Geschlecht gehört.

Die Ergebnisse meiner Forschungsarbeit habe ich Ihnen im folgenden Text zusammengefasst.

Frauen leiden häufiger unter chronischen Rückenschmerzen als Männer

Studien zeigen, dass Frauen häufiger an chronischen Rückenschmerzen leiden als Männer. Ein möglicher Grund dafür liegt in den biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Hormonelle Schwankungen, insbesondere das Hormon Östrogen, beeinflussen die Art und Weise, wie unser Körper auf Schmerzen reagiert. Auch die Muskulatur und Knochendichte von Frauen unterscheidet sich von der der Männer, was die Anfälligkeit für Rückenschmerzen verstärken kann. Gerade der Anstieg von chronischen Rückenschmerzen zwischen dem 3. und 6. Lebensjahrzehnt war auffällig. Auch hier waren Frauen häufiger von chronischen Rückenschmerzen betroffen als Männer. Ebenso konnte festgestellt werden, dass die Art und Weise der Schmerzverarbeitung bei Frauen und Männern unterschiedlich verläuft.

Für Sie als Patienten bedeutet dies, dass es wichtig ist, diese körperlichen Unterschiede bei der Wahl der Therapie zu berücksichtigen. Eine individuell abgestimmte Behandlung kann helfen, den Schmerz besser zu bewältigen.

Frauen geben intensivere Schmerzlevels an

Ein weiteres Ergebnis meiner Forschung ist, dass Frauen Schmerzen intensiver empfinden als Männer. Das bedeutet, dass Schmerzen das Leben von Frauen oft stärker beeinflussen – sowohl körperlich als auch emotional. Es könnte darauf hindeuten, dass Frauen intensivere Behandlungsansätze benötigen, die nicht nur auf den Körper, sondern auch auf das emotionale Wohlbefinden abzielen. Die emotionale Komponente von Schmerzen wird oft unterschätzt, spielt aber eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung von chronischen Schmerzen. Dennoch muss hier festgehalten werden, dass es eben auch sein kann, dass Frauen und Männer hier unterschiedliche Angaben machten. Stichwort: „Sei ein Mann und keine Memme.“

Psychosoziale Aspekte eher bei Frauen deutlich

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Schmerzwahrnehmung. Stress, Ängste und Depressionen haben bei Frauen laut Studienlage einen größeren Einfluss auf das Schmerzempfinden als bei Männern. Es ist daher wichtig, Strategien zur Stressbewältigung, wie Entspannungstechniken, Achtsamkeit oder psychologische Unterstützung, in den Behandlungsplan zu integrieren. Es konnte gezeigt werden, dass Frauen eher von achtsamkeitsbasierten Anwendungen profitierten als Männer.

Männer hingegen profitierten eher von konventionellen Therapieansätzen oder kognitiver Verhaltenstherapie.

Bedeutung für die Therapie

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die Behandlung? Meine Forschung hat gezeigt, dass Frauen am besten auf eine ganzheitliche Therapie ansprechen, die sowohl den Körper als auch den Geist behandelt. Eine Kombination aus Physiotherapie, psychologischer Unterstützung und Entspannungstechniken ist oft besonders wirksam, um die Schmerzen zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.

Männer hingegen profitieren häufig mehr von körperlich orientierten Therapieansätzen. Bewegungstherapie, Kräftigungsübungen und Mobilisation sind für sie oft zielführend, um die Schmerzen zu lindern und die Beweglichkeit zu verbessern.

Die wichtigste Erkenntnis meiner Forschung ist, dass Männer und Frauen unterschiedliche Behandlungen benötigen, um chronische Rückenschmerzen effektiv zu bewältigen. Was für den einen funktioniert, muss nicht unbedingt für den anderen hilfreich sein. Daher ist es entscheidend, gemeinsam mit Ihren Therapeuten herauszufinden, welche individuelle Therapie für Sie am besten geeignet ist. Chronische Rückenschmerzen sind eine große Belastung, aber mit der richtigen, auf Ihre Bedürfnisse abgestimmten Behandlung können Sie die Schmerzen in den Griff bekommen. Sprechen Sie mit Ihren Therapeuten darüber, wie genderspezifische Therapieansätze in Ihre Behandlung integriert werden können.

Limitationen meiner Studie

Ein wesentlicher, limitierender Punkt ist, dass die von mir analysierten Studien oft unterschiedliche Methoden und Definitionen verwendet haben, um Schmerzintensität und Therapieerfolge zu messen. Dies erschwert die direkte Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Manche Studien stützten sich auf subjektive Selbstberichte von Patienten, was die Genauigkeit der Schmerzmessungen beeinflussen könnte. Selbstberichte sind zwar wertvoll, können aber durch individuelle Unterschiede in der Wahrnehmung von Schmerzen oder durch soziale und kulturelle Einflüsse verzerrt sein.

Ein weiteres Problem ist, dass einige der Studien mit relativ kleinen Stichproben gearbeitet haben, was die Generalisierbarkeit der Ergebnisse einschränken könnte. Größere Studien mit einer breiteren Population wären notwendig, um die Gültigkeit der Erkenntnisse zu bestätigen. Zudem konzentrieren sich viele Studien auf westliche Länder, sodass die Ergebnisse möglicherweise nicht auf andere Kulturen oder Regionen übertragbar sind.

Schließlich bleibt auch die Frage offen, wie nachhaltig die untersuchten Therapien wirken. In meiner Arbeit wurden vorwiegend kurzfristige Behandlungserfolge untersucht. Langfristige Effekte und die Frage, wie sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Verlauf der Behandlung über Jahre hinweg entwickeln, konnten nicht umfassend berücksichtigt werden.

Trotz dieser Einschränkungen liefern die Ergebnisse meiner Arbeit wertvolle Hinweise darauf, dass geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen eine wichtige Rolle spielen und in der klinischen Praxis stärker berücksichtigt werden sollten.

Auf Wunsch sende ich Ihnen gerne meine Forschungsarbeit als pdf zu.

Christina Sattler

Long Covid- Komplementäre und alternative Behandlungsmethoden

Können komplementäre und alternative Methoden helfen?

In den letzten Jahren hat die globale Gesundheitskrise durch COVID-19 nicht nur akute medizinische Herausforderungen mit sich gebracht, sondern auch langfristige gesundheitliche Folgen, die als „Long Covid“ oder Post-Akutes COVID-19-Syndrom bekannt sind. Dieses Phänomen, charakterisiert durch anhaltende Symptome wie Müdigkeit, Atembeschwerden und kognitive Beeinträchtigungen, wirft bedeutende Fragen bezüglich effektiver Behandlungsansätze auf. Angesichts der Begrenzungen konventioneller medizinischer Therapien wenden sich viele Betroffene komplementären und alternativen Methoden (KAM) zu. Doch inwiefern können solche Therapien tatsächlich eine wirksame Unterstützung bieten und welche wissenschaftlichen Belege existieren für ihre Effektivität und Sicherheit?

In diesem Beitrag geht es darum, die Rolle komplementärer und alternativer Methoden bei der Behandlung von Long Covid zu untersuchen. Dabei wird auf die wissenschaftliche Validierung dieser Ansätze eingegangen. Dieser Ansatz ist von entscheidender Bedeutung, da er nicht nur medizinische Fachkräfte, sondern auch Patienten dabei unterstützen kann, informierte Entscheidungen über ihre Behandlungsoptionen zu treffen.

Hintergrund

Das Deutsche Institut für Altersvorsorge und Statista führten im März 2023 eine Umfrage unter 1323 Menschen ab 18 Jahren aus Deutschland durch, um die Auswirkungen der Corona- Pandemie zu beleuchten. Im Fokus der Befragung standen die Folgen der Infektion, wie zum Beispiel neue Betrachtungsweisen von Alltagsproblemen.

Der nachfolgenden Grafik kann entnommen werden, dass gerade in der Altersgruppe der 18 bis 29- jährigen, sowie der 30 bis 39- jährigen verhältnismäßig viele Menschen angaben, selbst von den Auswirkungen einer Post-/Long Covid- Erkrankung litten.

Abbildung 1 Statista und Deutsches Institut für Altersvorsorge Umfrage: Leiden Sie oder Ihre nahen Angehörigen an den Folgen von Post-/Long Covid?

Definitionen

Post Covid

Post Covid umfasst Krankheitssymptome, die nach einer akuten COVID- Erkrankung auftreten und Wochen oder Monate danach abklingen oder anhalten und sich chronifizieren können und somit zu beträchtlichen Einschränkungen im Alltag und Berufsleben führen können.

Long Covid

Long Covid bezeichnet den Überbegriff von diversen Subtypen der Krankheitssymptome und unterschiedlicher Krankheitsentstehung. Es existiert mittlerweile eine Unterteilung (Yong & Liu, 2021). Darunter zählen Multiorgan-Spätschaden an Herz und Lunge, das Post-Intensive-CARE-Syndrom (PICS) und die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS).

Komplementäre und alternative Therapien

Komplementäre Therapien sind Heilmethoden, die auf anderen Behandlungsansätzen und Entstehungsmodellen von Krankheit aufbauen, als die der Schulmedizin. Hierunter zählen zum Beispiel die Traditionelle chinesische Medizin (TCM) oder Naturheilverfahren. Diese Methoden können als Ergänzung zur Schulmedizin unterstützend gesehen werden.

Alternative Therapien sollen als echte Alternativen zur Schulmedizin dienen. Das heißt, statt der Medikamente sollen beispielsweise Globuli verwendet werden.

Studie zu komplementären und alternativen Therapien bei Post-/ Long Covid

Eine Studie aus dem Jahr 2023 untersuchte die Wirksamkeit von komplementärer und alternativer Methoden (KAM) zur Behandlung von Long COVID (LC) (Yang, et al., 2023). Die Autoren führten eine systematische Überprüfung randomisierter kontrollierter Studien (RCTs) durch, um die Beweise für verschiedene KAM-Modalitäten zu synthetisieren, die bei LC-Symptomen eingesetzt werden.

Ziel war es, die vorhandene Literatur zu bewerten und alternative Behandlungsansätze zu konventionellen Methoden aufzuzeigen. Die Untersuchung umfasste verschiedene KAM-Interventionen wie olfaktorisches Training (Geruchstraining), Aromatherapie und inspiratorisches Muskeltraining und analysierte deren Auswirkungen auf Symptome wie neuropsychiatrische Störungen, olfaktorische Dysfunktion (Störungen des Geruchssinns), kognitive Beeinträchtigungen, Müdigkeit und Atemnot.

Untersuchte Interventionen

Die untersuchten Methoden zur Behandlung von Long COVID umfassen:

  1. Olfaktorisches Training: Verbesserung des Geruchssinns bei olfaktorischer Dysfunktion.
  2. Selbstverabreichte transkutane aurikuläre Vagusnerv Stimulation: Nicht-invasive Stimulation des Vagusnervs zur Linderung neuropsychiatrischer Symptome.
  3. Neuro-Meditation: Meditative Praxis zur Verbesserung kognitiver Beeinträchtigungen.
  4. Aromatherapie: Verwendung ätherischer Öle zur Förderung des Wohlbefindens und zur Symptomenlinderung.
  5. Inspiratorisches Muskeltraining (IMT): Stärkung der Atemmuskulatur zur Behandlung von Atemnot.
  6. Diätetische Ergänzungen: Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln wie Coenzym Q10 zur Gesundheitsunterstützung.

Diese Methoden wurden auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit bei Symptomen wie olfaktorischer Dysfunktion, Müdigkeit, Atemnot und mild bis moderaten Lungenschäden untersucht.

Ergebnisse

Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass verschiedene Interventionen der komplementären und alternativen Medizin (KAM) möglicherweise wirksam und sicher für Patienten mit Long COVID (LC) sind. Besonders hervorzuheben ist, dass Interventionen wie olfaktorisches Training, selbst verabreichte transkutane aurikuläre Vagusnerv Stimulation, Neuro-Meditation, Aromatherapie, inspiratorisches Muskeltraining und diätetische Ergänzungen positive Auswirkungen auf Symptome wie olfaktorische Dysfunktion, Müdigkeit, Atemnot sowie mild bis moderate Lungenschäden zeigten.

Gleichzeitig wurde betont, dass die Ergebnisse mit Vorsicht betrachtet werden sollten, da die einbezogenen Studien methodologische Schwächen aufwiesen. Daher forderten die Autoren weitere gründliche und methodisch fundierte Untersuchungen, um die Wirksamkeit von KAM bei Long COVID besser zu beurteilen.

Fazit und Empfehlung

Informieren Sie sich über KAM-Methoden

Erforschen Sie verschiedene KAM-Interventionen wie olfaktorisches Training, transkutane aurikuläre Vagusnerv Stimulation, Neuro-Meditation, Aromatherapie, inspiratorisches Muskeltraining und diätetische Ergänzungen. Diese Methoden könnten potenziell hilfreich sein, um Ihre Symptome zu lindern

Konsultieren Sie Ihren Arzt

Bevor Sie mit einer neuen Therapie beginnen, sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder einem qualifizierten Gesundheitsdienstleister. Sie können Ihnen helfen, die für Sie am besten geeigneten Optionen zu identifizieren und sicherzustellen, dass diese mit Ihren bestehenden Behandlungen kompatibel sind

Seien Sie geduldig und realistisch

Die Wirksamkeit von KAM-Methoden kann von Person zu Person variieren. Seien Sie geduldig und setzen Sie realistische Erwartungen hinsichtlich der Ergebnisse

Achten Sie auf Ihre Symptome

Führen Sie ein Tagebuch über Ihre Symptome und die Auswirkungen der angewendeten KAM-Methoden. Dies kann Ihnen und Ihrem Arzt helfen, den Fortschritt zu überwachen und Anpassungen vorzunehmen

Suchen Sie Unterstützung

Ziehen Sie in Betracht, sich einer Selbsthilfegruppe oder einem Unterstützungsnetzwerk anzuschließen, um Erfahrungen auszutauschen und emotionale Unterstützung zu erhalten

Bleiben Sie informiert

Halten Sie sich über neue Forschungsergebnisse und Entwicklungen im Bereich KAM und Long COVID auf dem Laufenden, um informierte Entscheidungen über Ihre Gesundheit zu treffen

Diese Empfehlungen sollen Ihnen helfen, aktiv an Ihrer Genesung zu arbeiten und geeignete Behandlungsansätze zu finden, die Ihre Lebensqualität verbessern können.

Quellen

Yang, J., Lim, K. H., Lim, K. T., Woods, J. T., Mohabbat, A. B., Wahner-Roedler, D. L., . . . Bauer, B. A. (2023). Complementary and alternative medicine for long COVID: a systematic review of randomized controlled trials. Therapeutic advances in chronic disease. doi:10.1177/20406223231204727

Yong, S. J., & Liu, S. (9. Dezember 2021). Proposed subtypes of post-COVID-19 syndrome (or long-COVID) and their respective potential therapies. doi:10.1002/rmv.2315

Therapie sensomotorischer Störungen nach Schädel Hirn Trauma, Schlaganfall und anderer hirnorganischer Erkankungen

Unter „sensomotorisch“ versteht man die Fähigkeit, Bewegungen zu kontrollieren. Das funktioniert, indem wir einen Reiz mit unseren Sinnesorganen (Augen, Ohren, Nase, Haut) wahrnehmen und die Bewegung darauf anpassen. Unser Gehirn bringt diese Leistung zustande.

Sie möchten etwas trinken. Das Glas mit Wasser steht vor Ihnen. Sie sehen das Glas und Ihr Arm führt eine zielgerichtete Bewegung aus. Hand und Finger greifen nach dem Glas, spüren die Beschaffenheit des Glases (Sie greifen also anders, als würden Sie einen weichen, leichten Gegenstand greifen) und Sie führen das Glas auf direktem Wege zum Mund.

Ihr Gehirn reagiert auch sofort auf die Reize. Wie weit steht das Glas weg, wie fühlt sich der Gegenstand an und welche Bewegung muss ich nun einleiten. Ihr Gehirn hat diese Bewegung abgespeichert, weil wir sie oft genug als Kind geübt haben. Faszinierend, oder?

Unser Gehirn unterliegt einer gewissen „Plastizität“. Das bedeutet, unser Gehirn ist in der Lage, sich an Gegebenheiten anzupassen und wie in diesem Fall, Bewegungsabläufe auch abzuspeichern. Auf diese Art haben Sie krabbeln, laufen und eben auch aus einem Glas zu trinken gelernt. Sie müssen nicht immer wieder neu lernen, wie man ein Glas greift.

Wird das Gehirn nun verletzt wird, so wie es beispielsweise bei einem Schlaganfall oder einem Schädel Hirn Trauma geschieht, dann sind sensomotorische Störungen die häufigste Folge. Sensible und motorische Funktionsstörungen sind die häufigsten neurologischen Ausfälle nach etwa einem Schlaganfall oder einem Schädel Hirn Trauma.

Je nachdem, wie groß die Verletzung ist und in welchem Gehirnbereich die Verletzung stattgefunden hat, zieht dies unterschiedliche Ausprägungen sensomotorischer Störungen nach sich.

Da wir durch Forschungsergebnisse wissen, dass das Gehirn in der Lage ist, sich anzupassen, bedienen wir uns dieser Erkenntnis aus der Wissenschaft in der Physiotherapie. Das Gehirn wird sich also nach einer solchen „Verletzung“ anpassen. Es wird sich aber auch anpassen, wenn wir die/den Patien*in behandeln. Man spricht hier vom läsionsinduzierten Anpassungsvermögen und vom trainingsinduzierten Anpassungsvermögen.

Beide Mechanismen greifen ineinander. Da Versuche an Tieren zeigten, dass das Gehirn bis vier Wochen nach einem Schlaganfall am anpassungsfähigsten war (Zeiler & Krakauer 2013), ist es von größter Wichtigkeit, sofort mit der Therapie zu beginnen!

Jeder von Ihnen hat sicherlich mal einen Menschen mit einer Halbseitenlähmung gesehen. Zum einen kann es diesem Menschen schwerfallen, seinen Arm im Alltag zu nutzen, vielleicht hat er auch Beschwerden beim Gehen. Das schränkt den Alltag und somit auch die Aktivitäten des täglichen Lebens ein.

Wir wissen, dass Hirnareale, die häufig genutzt werden, stärker ausgebildet sind. Umgekehrt verkümmern Gebiete des Gehirns, wenn sie nicht genutzt werden. Salopp ausgedrückt. Aber verschiedene Gehirnareale arbeiten auch zusammen und können sich gegenseitig befeuern . Also Zellen, die sich gegenseitig befeuern, verbinden sich auch miteinander („Cells that fire together, wire together“). Dieses Wissen und das Wissen um neuromotorische Zusammenhänge machen wir uns in der Physiotherapie zu Nutze.

Es ist also möglich, das Gehirn so zu programmieren, dass unser/e Patient*in wieder in der Lage ist, bspw. die Funktionen des Arms, Hand und der Finger, sowie das Gangbild zu verbessern. Das bedeutet für unsere/n Patient*in allerdings auch, dass sie/er mitarbeiten muss.

Aber wie genau gestaltet sich die Therapie?

Stellen Sie sich nun vor, Sie sehen diesen Menschen. Der Mensch sitzt am Tisch neben Ihnen im Restaurant und Sie bemerken, dass es ihm schwer fällt, mit Messer und Gabel zu essen. Was würden Sie verbessern wollen? Genau. Die Funktion der gelähmten Hand. Aber, was, wenn dem Menschen das gar nicht so wichtig ist, dass er wie vorher mit Messer und Gabel umgehen kann? Vielleicht ist es ihm aber viel wichtiger, wieder den ausgedehnten Sonntagsspaziergang mit der Familie zu schaffen.

Genau das gilt es, mit in die Therapie einzubeziehen. Die/der Physiotherapeut*in ist natürlich gewillt, alle Funktionen so gut wie möglich wiederherzustellen.

Natürlich muss man vernünftig gewichten, wenn man einen Therapieplan erstellt. Allerdings richtet sich der Grad der Behinderung eben auch danach, was Patient*innen als einschränkend empfinden und deswegen werden die Wünsche und Ziele der Patient*innen immer mit oberster Priorität in meine Therapieplanung einbezogen.

Therapie

Ich erfasse zunächst nach standardisierten Tests die Folgen und die Symptome der Erkrankung. Wichtig ist auch, dass ich den Verlauf dokumentiere, um so das Erreichen der Therapieziele zu sichern. Ich erstelle also einen Befund.

Patient*innen, die zu mir in die Praxis kommen, werden öfter den Satz hören: „Laufen lernt man beim Laufen“. Früher hat man Bewegungen „angebahnt“. Man legte Patient*innen auf die Behandlungsbank und führte anbahnende Übungen durch. Man nahm an, dass man durch einen gezielt gesetzten Reiz, eine Bewegung hervorrufen kann.

Heute wird die Bewegung selbst immer und immer wieder geübt und das im Hinblick auf Alltagsbewegungen. Unter anderem arbeite ich mit Hilfe von Spiegeln, in denen die Patient*innen die Bewegung beobachten und somit nach mehrmaligem Wiederholen abspeichern können (s.a. Graded motor imagery). Es werden zunächst isolierte Bewegungen, wie zum Beispiel das Greifen geübt. Der reine Bewegungsablauf also. Dann gehen wir zügig steigernd in Bewegungen des täglichen Lebens über (z.B. aus der Kaffeetasse trinken).

Es bringt also nicht viel, dass sie den Daumen zum Zeigefinger, zum Mittelfinger, Ringfinger oder kleinen Finger bewegen können. Wichtig ist, dass Sie wieder die Schuhe zubinden können. Es bringt auch nichts, wenn wir als Therapeut*innen den Patient*innen ständig die Hand führen. Die Patient*innen müssen die Bewegungen so gut wie möglich selbst aktiv durchführen. Nur so kann ein motorischer Lernprozess stattfinden. Also sagen Sie Ihren Therapeut*innen nicht, dass sie Sie gerne quälen 😉 ( Ja, das wird uns hin und wieder nachgesagt).

Die Therapeut*innen verstehen nur, wie das Gehirn funktioniert und möchten Sie dazu bringen, dass Sie bald selbst wieder besser im Alltag klar kommen. Natürlich ist es wichtig, dass Sie als Patient*in Feedback geben und Sie dürfen sicher sein, dass ich Ihnen alle Pausen gönne, um sich zu erholen.

Auf der Basis Ihres individuellen Befundergebnisses behandele ich die eingeschränkten Bewegungsabläufe. Meine Therapie beinhaltet immer die Verbesserung der Aktivität auf der Funktionsebene (also den Bewegungsablauf an sich), aber auch auf der Ebene der sozialen Teilhabe am Leben. Was bringt es Ihnen also, wenn Sie perfekt den rechten Fuß zum Schienbein hochziehen können, wenn Sie aber im Wald über kleine Äste stolpern, oder sich nicht trauen, auf eines Ihrer geliebten Konzerte zu gehen, weil Sie Angst haben, angerempelt zu werden und hinzufallen?

Zum Abschluss ein Patientenbeispiel aus meiner Praxis

Ein Patient mit der Diagnose Multiple Sklerose und Schlaganfall lag wegen Untersuchungen über zwei Wochen stationär im Krankenhaus. Und wenn ich hier schreibe „lag“, dann meinen ich das genau so. Der Patient wurde nicht mobilisiert. Als er nach dem Krankenhausaufenthalt nach Hause kam, konnte er nicht mehr aus dem Rollstuhl aufstehen. Vor dem Krankenhausaufenthalt konnten wir mit der Therapie erreichen, dass er mit dem Rollator eine komplette Runde durch die gesamte Wohnung zurücklegen konnte.

Was war passiert?

Der Patient lag zwei Wochen im Bett und wurde nicht mobilisiert. Sprich: Keiner ist mit ihm aufgestanden, geschweige denn mit ihm gelaufen. Als er dann nach Hause kam, war diese Bewegung nicht mehr in seinem Gehirn präsent.

Was haben wir in der Therapie gemacht?

Wir haben zunächst die Muskulatur, die zum Aufstehen und Gehen notwendig ist wieder aufgebaut. Danach haben wir das Aufstehen „geübt“. Erstmal nur aus dem Rollstuhl aufstehen. Das gestaltete sich als schwierig. Der reine Bewegungsablauf, ohne diesen mit einer alltäglichen Situation zu verbinden, machte also für meinen Patienten nicht viel Sinn. Da der Patient eine ambitionierte Leseratte ist und am liebsten Bücher sortiert, haben wir vor dem großen Regal das Aufstehen geübt. Mit der Aufforderung, doch bitte dieses und jenes Buch aus dem Regal zu holen, fiel es dem Patienten deutlich leichter, die Bewegung abzurufen.

Nach mehrmaligem Üben gelang es dann auch wieder, dass der Patient ohne diesen Vorwand aus dem Rollstuhl aufstehen konnte und heute wieder mit dem Rollator in seiner Wohnung mobil sein kann. Ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man Gehirnareale, die zusammen feuern, aktivieren kann, um sich so zu verbinden, dass komplexe Bewegungsabfolgen wie hier das Aufstehen wieder funktionieren.

Text: Christina Sattler