Unter „sensomotorisch“ versteht man die Fähigkeit, Bewegungen zu kontrollieren. Das funktioniert, indem wir einen Reiz mit unseren Sinnesorganen (Augen, Ohren, Nase, Haut) wahrnehmen und die Bewegung darauf anpassen. Unser Gehirn bringt diese Leistung zustande.

Sie möchten etwas trinken. Das Glas mit Wasser steht vor Ihnen. Sie sehen das Glas und Ihr Arm führt eine zielgerichtete Bewegung aus. Hand und Finger greifen nach dem Glas, spüren die Beschaffenheit des Glases (Sie greifen also anders, als würden Sie einen weichen, leichten Gegenstand greifen) und Sie führen das Glas auf direktem Wege zum Mund.

Ihr Gehirn reagiert auch sofort auf die Reize. Wie weit steht das Glas weg, wie fühlt sich der Gegenstand an und welche Bewegung muss ich nun einleiten. Ihr Gehirn hat diese Bewegung abgespeichert, weil wir sie oft genug als Kind geübt haben. Faszinierend, oder?

Unser Gehirn unterliegt einer gewissen „Plastizität“. Das bedeutet, unser Gehirn ist in der Lage, sich an Gegebenheiten anzupassen und wie in diesem Fall, Bewegungsabläufe auch abzuspeichern. Auf diese Art haben Sie krabbeln, laufen und eben auch aus einem Glas zu trinken gelernt. Sie müssen nicht immer wieder neu lernen, wie man ein Glas greift.

Wird das Gehirn nun verletzt wird, so wie es beispielsweise bei einem Schlaganfall oder einem Schädel Hirn Trauma geschieht, dann sind sensomotorische Störungen die häufigste Folge. Sensible und motorische Funktionsstörungen sind die häufigsten neurologischen Ausfälle nach etwa einem Schlaganfall oder einem Schädel Hirn Trauma.

Je nachdem, wie groß die Verletzung ist und in welchem Gehirnbereich die Verletzung stattgefunden hat, zieht dies unterschiedliche Ausprägungen sensomotorischer Störungen nach sich.

Da wir durch Forschungsergebnisse wissen, dass das Gehirn in der Lage ist, sich anzupassen, bedienen wir uns dieser Erkenntnis aus der Wissenschaft in der Physiotherapie. Das Gehirn wird sich also nach einer solchen „Verletzung“ anpassen. Es wird sich aber auch anpassen, wenn wir die/den Patien*in behandeln. Man spricht hier vom läsionsinduzierten Anpassungsvermögen und vom trainingsinduzierten Anpassungsvermögen.

Beide Mechanismen greifen ineinander. Da Versuche an Tieren zeigten, dass das Gehirn bis vier Wochen nach einem Schlaganfall am anpassungsfähigsten war (Zeiler & Krakauer 2013), ist es von größter Wichtigkeit, sofort mit der Therapie zu beginnen!

Jeder von Ihnen hat sicherlich mal einen Menschen mit einer Halbseitenlähmung gesehen. Zum einen kann es diesem Menschen schwerfallen, seinen Arm im Alltag zu nutzen, vielleicht hat er auch Beschwerden beim Gehen. Das schränkt den Alltag und somit auch die Aktivitäten des täglichen Lebens ein.

Wir wissen, dass Hirnareale, die häufig genutzt werden, stärker ausgebildet sind. Umgekehrt verkümmern Gebiete des Gehirns, wenn sie nicht genutzt werden. Salopp ausgedrückt. Aber verschiedene Gehirnareale arbeiten auch zusammen und können sich gegenseitig befeuern . Also Zellen, die sich gegenseitig befeuern, verbinden sich auch miteinander („Cells that fire together, wire together“). Dieses Wissen und das Wissen um neuromotorische Zusammenhänge machen wir uns in der Physiotherapie zu Nutze.

Es ist also möglich, das Gehirn so zu programmieren, dass unser/e Patient*in wieder in der Lage ist, bspw. die Funktionen des Arms, Hand und der Finger, sowie das Gangbild zu verbessern. Das bedeutet für unsere/n Patient*in allerdings auch, dass sie/er mitarbeiten muss.

Aber wie genau gestaltet sich die Therapie?

Stellen Sie sich nun vor, Sie sehen diesen Menschen. Der Mensch sitzt am Tisch neben Ihnen im Restaurant und Sie bemerken, dass es ihm schwer fällt, mit Messer und Gabel zu essen. Was würden Sie verbessern wollen? Genau. Die Funktion der gelähmten Hand. Aber, was, wenn dem Menschen das gar nicht so wichtig ist, dass er wie vorher mit Messer und Gabel umgehen kann? Vielleicht ist es ihm aber viel wichtiger, wieder den ausgedehnten Sonntagsspaziergang mit der Familie zu schaffen.

Genau das gilt es, mit in die Therapie einzubeziehen. Die/der Physiotherapeut*in ist natürlich gewillt, alle Funktionen so gut wie möglich wiederherzustellen.

Natürlich muss man vernünftig gewichten, wenn man einen Therapieplan erstellt. Allerdings richtet sich der Grad der Behinderung eben auch danach, was Patient*innen als einschränkend empfinden und deswegen werden die Wünsche und Ziele der Patient*innen immer mit oberster Priorität in meine Therapieplanung einbezogen.

Therapie

Ich erfasse zunächst nach standardisierten Tests die Folgen und die Symptome der Erkrankung. Wichtig ist auch, dass ich den Verlauf dokumentiere, um so das Erreichen der Therapieziele zu sichern. Ich erstelle also einen Befund.

Patient*innen, die zu mir in die Praxis kommen, werden öfter den Satz hören: „Laufen lernt man beim Laufen“. Früher hat man Bewegungen „angebahnt“. Man legte Patient*innen auf die Behandlungsbank und führte anbahnende Übungen durch. Man nahm an, dass man durch einen gezielt gesetzten Reiz, eine Bewegung hervorrufen kann.

Heute wird die Bewegung selbst immer und immer wieder geübt und das im Hinblick auf Alltagsbewegungen. Unter anderem arbeite ich mit Hilfe von Spiegeln, in denen die Patient*innen die Bewegung beobachten und somit nach mehrmaligem Wiederholen abspeichern können (s.a. Graded motor imagery). Es werden zunächst isolierte Bewegungen, wie zum Beispiel das Greifen geübt. Der reine Bewegungsablauf also. Dann gehen wir zügig steigernd in Bewegungen des täglichen Lebens über (z.B. aus der Kaffeetasse trinken).

Es bringt also nicht viel, dass sie den Daumen zum Zeigefinger, zum Mittelfinger, Ringfinger oder kleinen Finger bewegen können. Wichtig ist, dass Sie wieder die Schuhe zubinden können. Es bringt auch nichts, wenn wir als Therapeut*innen den Patient*innen ständig die Hand führen. Die Patient*innen müssen die Bewegungen so gut wie möglich selbst aktiv durchführen. Nur so kann ein motorischer Lernprozess stattfinden. Also sagen Sie Ihren Therapeut*innen nicht, dass sie Sie gerne quälen 😉 ( Ja, das wird uns hin und wieder nachgesagt).

Die Therapeut*innen verstehen nur, wie das Gehirn funktioniert und möchten Sie dazu bringen, dass Sie bald selbst wieder besser im Alltag klar kommen. Natürlich ist es wichtig, dass Sie als Patient*in Feedback geben und Sie dürfen sicher sein, dass ich Ihnen alle Pausen gönne, um sich zu erholen.

Auf der Basis Ihres individuellen Befundergebnisses behandele ich die eingeschränkten Bewegungsabläufe. Meine Therapie beinhaltet immer die Verbesserung der Aktivität auf der Funktionsebene (also den Bewegungsablauf an sich), aber auch auf der Ebene der sozialen Teilhabe am Leben. Was bringt es Ihnen also, wenn Sie perfekt den rechten Fuß zum Schienbein hochziehen können, wenn Sie aber im Wald über kleine Äste stolpern, oder sich nicht trauen, auf eines Ihrer geliebten Konzerte zu gehen, weil Sie Angst haben, angerempelt zu werden und hinzufallen?

Zum Abschluss ein Patientenbeispiel aus meiner Praxis

Ein Patient mit der Diagnose Multiple Sklerose und Schlaganfall lag wegen Untersuchungen über zwei Wochen stationär im Krankenhaus. Und wenn ich hier schreibe „lag“, dann meinen ich das genau so. Der Patient wurde nicht mobilisiert. Als er nach dem Krankenhausaufenthalt nach Hause kam, konnte er nicht mehr aus dem Rollstuhl aufstehen. Vor dem Krankenhausaufenthalt konnten wir mit der Therapie erreichen, dass er mit dem Rollator eine komplette Runde durch die gesamte Wohnung zurücklegen konnte.

Was war passiert?

Der Patient lag zwei Wochen im Bett und wurde nicht mobilisiert. Sprich: Keiner ist mit ihm aufgestanden, geschweige denn mit ihm gelaufen. Als er dann nach Hause kam, war diese Bewegung nicht mehr in seinem Gehirn präsent.

Was haben wir in der Therapie gemacht?

Wir haben zunächst die Muskulatur, die zum Aufstehen und Gehen notwendig ist wieder aufgebaut. Danach haben wir das Aufstehen „geübt“. Erstmal nur aus dem Rollstuhl aufstehen. Das gestaltete sich als schwierig. Der reine Bewegungsablauf, ohne diesen mit einer alltäglichen Situation zu verbinden, machte also für meinen Patienten nicht viel Sinn. Da der Patient eine ambitionierte Leseratte ist und am liebsten Bücher sortiert, haben wir vor dem großen Regal das Aufstehen geübt. Mit der Aufforderung, doch bitte dieses und jenes Buch aus dem Regal zu holen, fiel es dem Patienten deutlich leichter, die Bewegung abzurufen.

Nach mehrmaligem Üben gelang es dann auch wieder, dass der Patient ohne diesen Vorwand aus dem Rollstuhl aufstehen konnte und heute wieder mit dem Rollator in seiner Wohnung mobil sein kann. Ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man Gehirnareale, die zusammen feuern, aktivieren kann, um sich so zu verbinden, dass komplexe Bewegungsabfolgen wie hier das Aufstehen wieder funktionieren.

Text: Christina Sattler